Immer wieder verlassen uns Kinder. Stellvertretend möchten wir einige von ihnen vorstellen. Mädchen und Jungen, die wir auf ihrem letzten Weg begleitet haben. Die tapfer und kämpferisch, liebenswert und phantasievoll waren. Und einzigartig – wie jeder einzelne Stern am Himmel.

„Wenn Sterne am Himmel leuchten, tritt Licht in unser Herz. Denn wir wissen, Du siehst auf uns herab…“ (aus einem Nachruf)

13.04.2023

Florian

Im Wohnzimmerregal steht ein kleiner Würfel aus Glas. Darin befindet sich ein Edelstein der Farbe „deep blue“. Das ist die Erinnerung an Florian. Er war der einzige Sohn von Juliane und Markus. Ende 2021 starb er zuhause in seinem Kinderzimmer in Anwesenheit der Familie und der Kleinen Riesen.

„Die Schwangerschaft war ok“, erinnert sich die Mutter. Florian kam Anfang Dezember 2010 mit einem Kaiserschnitt auf die Welt. „Das war an einem Samstag“, erzählt der Vater. „Er hatte eine Trinkschwäche, aber sonst war alles in Ordnung.“ Am Montag bekam er plötzlich keine Luft und wurde auf die Intensivstation verlegt. Die Ärzte vermuteten einen Infekt. Die Blutuntersuchung zeigte jedoch etwas Bedenkliches. Plötzlich stand der Verdacht auf eine Stoffwechselkrankheit im Raum. Der Ammoniakwert war schließlich so erhöht, dass Florian per Hubschrauber in eine Uniklinik verlegt werden musste. Die Mutter musste sich zu Hause vom Kaiserschnitt erholen und der Vater fuhr mit dem Auto hinterher.

Die Ärzte stellten einen Harnstoffzyklusdefekt fest: einen sogenannten OTC-Mangel. In der Leber fehlt ein Enzym, das das Eiweiß zerteilt damit es ausgeschieden werden kann. Nach der Diagnose stellte sich bei den Eltern Erleichterung ein: Florian bekam entsprechende Medikamente, der Ammoniakwert verbesserte sich, die Ernährung war strikt eiweißarm. Die Eltern pendelten mit Florian zwischen der Stoffwechselambulanz der Uniklinik und einer anderen Klinik, wo er an einer Studie teilnahm.

Alles schien gut zu werden

Alles sah nach einem den Umständen entsprechend guten, weiteren Verlauf aus. Doch dann bekam Florian einen Infekt und die Eltern sind mit ihm sofort ins Krankenhaus. Der Schock: Der Ammoniakwert war erneut und dramatisch erhöht und war nach zwei Tagen noch höher: Statt 30 zeigte der Wert bei Florian 2000 an. Sofort wurde er auf eine Intensivstation verlegt, er bekam einen Katheter, fiel ins Koma, wurde beatmet und bekam Dialyse. Aber was war passiert? Durch ein Versehen war die Nahrung vertauscht worden. Florian hatte statt des eiweißarmen Essens die eiweißhaltige Portion bekommen. „Dadurch ist er seines Lebens beraubt worden“, sagt der Vater rückblickend.

Florian kommt schwerstbehindert nach Hause

Der Klinikfehler wurde entsprechend aufgeklärt, die Rechtslage war klar. Florian kehrte jedoch als schwerstbehindertes Kind nach Hause zurück. Durch die vertauschte Nahrung war sein Gehirn irreparabel geschädigt worden. Es war nicht mehr möglich, mit Florian zu kommunizieren. Aber die Eltern haben ihm angesehen, ob es ihm gut oder schlecht geht. Im September 2011 konnte Florian eine Spenderleber transplantiert werden. Damit war der Harnstoffzyklusdefekt geheilt, die Hirnschädigung blieb.

„Wir haben 11 Jahre das Beste daraus gemacht“, erzählen die Eltern. „Wir waren auch in der Türkei oder in Griechenland gemeinsam mit Florian im Urlaub.“ Er liebte es, mit seinem Papa die Fußballspiele von Eintracht Frankfurt zu sehen, Tonies zu hören, in der Schaukel im Garten zu liegen oder im Pool auf der Luftmatratze. Die Familie hat Markus und Juliane wo es nur ging unterstützt. Viele Freunde habe sich hingegen abgewendet. Sie konnten mit der Situation nicht umgehen.

Die junge Mutter war zunächst nach der Entlassung aus der Klinik zuhause allein mit Florian und hat für ihn gesorgt. Sie fühlten sich allein gelassen. „Die Kinderärztin hat mir viel geholfen“, sagt die Mutter. „Ich wusste ja zunächst gar nichts.“ Ihren Beruf als Verkäuferin hat sie für Florian aufgebeben. 2016 ist ein Pflegedienst in die Betreuung eingestiegen. 2018 ist Florians Vater dann auch aus dem Beruf ausgestiegen, um bei Florian zu sein. Die 24-Stunden-Pflege zermürbte die Eltern. Sie erinnern sich: „Der Pflegedienst hat uns das KinderPalliativTeam der Kleinen Riesen empfohlen. Der Gedanke daran hat uns aber eher abgeschreckt.“ Das Hinzuziehen des KinderPalliativTeams wird häufig mit einem schnellen Tod in Verbindung gebracht. „Die Vielfalt der unterstützenden Arbeit war uns zu dem Zeitpunkt noch nicht bewusst.“

Die Kleinen Riesen kommen dazu

Die Eltern warteten noch ein Jahr und nahmen dann Kontakt mit dem KinderPalliativTeam der Kleinen Riesen auf. Die Gespräche erleichterten sie sehr. „Endlich wurden viele Dinge benannt und angesprochen. Wir haben uns viel darüber ausgetauscht, was das Therapieziel von Florian sein kann.“ Auch als Florian in einer Krise ins Krankenhaus kam, war das KinderPalliativTeam da. Sie haben das Heft in die Hand genommen und Florian hat es nochmals geschafft. Um seine Epilepsie richtig einzustellen, musste er aber nochmal in eine entfernte Uniklinik. Das Team der Kleinen Riesen kam auch zu Gesprächen mit den Ärzten dorthin mit und gab den Eltern damit Sicherheit. Später musste Florian dauerhaft mit Sauerstoff versorgt werden. Und trotzdem verbrachte die kleine Familie einen schönen Urlaub in der Türkei.

In dieser Zeit fassten die Eltern auch den Entschluss, dass sie nicht mehr mit Florian ins Krankenhaus wollten. Florian solle nicht in einem hektischen Krankenhaus sterben, sondern zuhause. Sein Stresspegel erhöhte sich enorm, wenn er mit einem Infekt ins Krankenhaus kam. Dann wurden neue Antibiotika gegeben, die Situation besserte sich und nach einiger Zeit begann es wieder von vorne. Das wollten die Eltern Florian nicht mehr zumuten. Er durfte zuhause bleiben. Täglich waren 40 bis 45 Medikamentengaben notwendig. Die Begleitung durch das KinderPalliativTeam hat den Eltern nach eigenen Angaben so viel erleichtert. „Sie brachten einfach andere Gedanken und Ideen mit, wie wir uns mit Florian organisieren konnten.“ Die Lebensqualität zuhause sei so unendlich höher als in Krankenhäusern. „Wir sind sehr froh, dass wir zuhause mit Florian noch eine so gute Zeit hatten.“ Aufgrund einer Abfindung des Krankenhauses konnten beide Elternteile zunächst zuhause bei Florian bleiben und eine gemeinsame Zeit genießen.

„Florian ging als wir ihn loslassen konnten“

Florian starb Ende Dezember 2021 - ein halbes Jahr, nachdem seine Mutter wieder angefangen hat zu arbeiten. Eine Palliative Care Pflegekraft der Kleinen Riesen und die Familie waren dabei. Seine Mutter ist sich sicher: „Florian konnte gehen, als er merkte, dass wir ihn loslassen können! Ich habe wieder gearbeitet, da hat er gemerkt, dass er gehen kann.“ Es gab eine Abschiedsfeier auf dem Friedhof mit vielen Luftballons. Mit dem Pflegeteam bemalten die Eltern die Urne. Die Asche wurde mit dem Auto nach Österreich gefahren. 50 Tage hat es gedauert, bis die Eltern den Edelstein in der Hand halten konnten.

Ein Arzt und eine Pflegekraft der Kleinen Riesen kamen nach Florians Tod noch einmal zu einem Abschlussgespräch ins Haus. Das Zimmer blieb nach Florians Tod viele Monate unangetastet. Seine Mutter ging jeden Morgen hinein – Florians Vater mied es eher. Die Sorge um Florian und seine Pflege habe sie als Paar zusammengeschweißt, berichten sie.

„Wir haben 11 Jahre einfach funktioniert“, erzählen die Eltern. „Augen zu und durch!“ Sie wünschen sich, dass es in den Krankenhäusern mehr Aufklärung und mehr Gespräche mit den Eltern gebe. „Es wäre schön, wenn andere Kinder auch so gut sterben könnten“, wünscht sich Juliane. Markus würde sich in den Krankenhäusern mehr palliative Begleitung wünschen. „In den Krankenhäusern sollte in entsprechenden Situationen mehr palliativ als kurativ gedacht werden.“ Dennoch sind sie sehr dankbar für das Krankenhaussystem in Deutschland und den Sozialstaat. Sie wissen, dass sie in anderen Ländern nicht so mit Florian hätten leben können.

Das Besondere in der Begleitung durch das KinderPalliativTeam war der intensive Austausch. „Wir haben oft Videos von Florians Zustand an das Team geschickt und bekamen dann klare Rückmeldungen.“ Gemeinsam haben sie Höhen und Tiefen erlebt. Florian und seine Eltern sind eine der Familien, die mit am längsten vom KinderPalliativTeam begleitet wurden. Nicht nur für die medizinische und pflegerische Betreuung durch die Kleinen Riesen sind Florians Eltern dankbar. Seit das KinderPalliativTeam in die Begleitung eingestiegen war, hatten beide auch regelmäßige Gespräche mit der psychologischen Fachkraft der Kleinen Riesen. Diese Gespräche gab es auch über den Tod Florians hinaus. „Dafür sind wir unendlich dankbar! Wenn diese Gespräche nicht gewesen wären, wären wir heute nicht so weit“, sagt Juliane und setzt einen riesigen Teddy, der Florians Kleidung trägt, auf dem Sofa richtig hin. 

 

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