Immer wieder verlassen uns Kinder. Stellvertretend möchten wir einige von ihnen vorstellen. Mädchen und Jungen, die wir auf ihrem letzten Weg begleitet haben. Die tapfer und kämpferisch, liebenswert und phantasievoll waren. Und einzigartig – wie jeder einzelne Stern am Himmel.

„Wenn Sterne am Himmel leuchten, tritt Licht in unser Herz. Denn wir wissen, Du siehst auf uns herab…“ (aus einem Nachruf)

31.12.2014

Charlotte

Als Charlotte am 9. Juni 2014 zur Welt kommt, ist für ihre Eltern Claudia und Bruno Hartung die Welt noch in Ordnung.

Gewicht und Größe sind normal, lediglich die sechsten Fingerchen an beiden Händen sind irritierend. Fünf Tage später erhalten sie die erschütternde Diagnose: Charlotte leidet an einer freien Trisomie 13. Kinder mit dieser Chromosomstörung, bei der ein überschüssiges dreizehntes Chromosom vorhanden ist, leiden unter schweren Organfehlbildungen und sterben in der Regel innerhalb des ersten Lebensjahres.

Die ersten beiden Wochen verbringt das Neugeborene auf der Intensivstation; seine Eltern und die damals sechsjährige Schwester Elena sind abwechselnd bei ihm in der Klinik in Marburg. Ihr Zuhause in Dodenau (Landkreis Frankenberg) liegt 40 Kilometer entfernt. Es sind lange Wege für die Familie, um bei ihrem schwerkranken Baby zu sein.

"Es war uns schnell klar, dass Charlotte auf keinen Fall in der Klinik, sondern bei uns zu Hause sterben wird", erinnert sich Vater Bruno. Die Ärzte und Schwestern fragen die jungen Eltern mehrfach: "Sind Sie sich sicher?". "Ja, das waren wir", so Claudia Hartung. "Mein Mann war mit der Entscheidung zwar mutiger als ich, aber wir haben sie gemeinsam getragen." Das Ehepaar lernt alle medizinisch notwendigen Handgriffe, vor allem das Sondieren. Wegen der angesetzten Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte ist das Saugen an der Flasche für Charlotte nur mühsam und sie muss sich enorm anstrengen - und das oft nur für wenige Milliliter. Immer wieder - an einem Tag bis zu 55 Mal - kämpft sich Charlotte mit verlangsamten, teilweise aussetzendem Herzschlag, einer sogenannten Bradykardie, immer wieder ins Leben zurück. "So erschöpft, wie sie oft war, war Charlotte aber auch ein Dickschädel, der mit vehementem Schreien seinen Willen durchsetzte. Sie hatte das Personal der Intensivstation fest im Griff", erinnern sich die Eltern mit einem Schmunzeln.

Von der Kinderklinik in Marburg erfährt Familie Hartung vom ambulanten KinderPalliativTeam Nordhessen und nimmt Kontakt auf. Mitte Juli 2014 treffen die Eltern dessen Ärztlichen Leiter Dr. med. Thomas Voelker und die Koordinatorin Christiane Engelmohr erstmals - und fühlen sich von Anfang an verstanden, geborgen, unterstützt. Von da an besucht Christiane Engelmohr die Hartungs einmal in der Woche; sehr zur Freude von Elena, die die Sozialpädagogin regelrecht vereinnahmt und jede Minute mit ihr als Spielgefährtin auskostet. Dr. Voelker schaut regelmäßig alle zwei Wochen und bei Bedarf jederzeit bei Charlottes Familie vorbei. "Wir haben mit Dr. Voelker über so vieles offen und frei heraus sprechen können. Beispielsweise hatten wir vor der Gabe von Morphin richtig Angst davor. Wir haben lange mit uns gehadert. Dr. Voelker klärte uns auf, dass das Medikament Charlotte dabei hilft, ihre Leiden leichter zu ertragen. Wir hatten bis dato völlig falsche Vorstellungen von Morphin", erzählt Bruno Hartung.

Obwohl die Eltern ein eingespieltes Team sind in der Betreuung von Charlotte, die Nächte beispielsweise in Schichten abwechselnd übernehmen - zuweilen sind sie am Rande der Belastbarkeit. Dr. Voelker schlägt einen Besuch im Kinderhospiz "Bärenherz" in Wiesbaden vor. "Zuerst war ich schon allein wegen des Namens Hospiz schockiert. Ich gebe doch mein Kind nicht zum Sterben weg", so die erste Reaktion des Vaters. Doch auch hier kann Dr. Voelker Klarheit schaffen. Es ginge in erster Linie darum, der Familie eine Verschnaufpause zu verschaffen, während Charlotte professionell betreut würde. Zweimal fährt die Familie ins "Bärenherz" - einmal für ein Wochenende, später für eine ganze Woche. Es tut allen gut, die Zeit des Kurzurlaubes als Familie bewusst zu erleben und dabei kompetente Betreuung und Rundum-Versorgung zu genießen. "Noch nie in meinem Leben hatte ich vorher von einem Kinderhospiz oder einem KinderPalliativTeam gehört. Ich merkte, wie wenig in der Gesellschaft schwerstkranke, sterbende Kinder wahrgenommen werden. Wie oft wünscht man einem anderen Glück, gedankenlos gesagt, fast als Floskel. Wenn ich jetzt jemandem Gesundheit wünsche, dann ganz bewusst."

Charlotte stirbt am 17. September 2014, kurz nach Elenas Schuleinführung. 3 1/2 Monate wurde die Kleine alt. "Auch wenn wir sie nur kurz bei uns hatten, hat uns Charlotte glücklich und stolz gemacht. Sie hat ihrem Namen - der für tüchtig und tapfer steht - alle Ehre gemacht" sagen die Eltern. "Charlotte und der Einsatz des KinderPalliativTeams bleiben unvergessen, auch für die Zukunft." Übrigens: Im August 2015 haben Claudia und Bruno Hartung ihr drittes Kind, einen gesunden Jungen, bekommen.

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