09.10.2024

„Ich sehe nicht primär Leid, sondern Bewältigung!“

Dr. Michael Scherf ist sein dem 1. Juni 2024 als psychologischer Berater im Team der Kleinen Riesen. Der 50-Jährige hat Soziologie in Bielefeld studiert und sich in den folgenden Jahren in systemischer Organisationsberatung und Coaching, sowie Existenzanalytischer Beratung und Therapie weitergebildet. Seit 2010 bietet er freiberufliche Beratungsarbeit in den eigenen Praxisräumen an.

Lieber Michael, du kanntest die Kleinen Riesen bereits, bevor du bei uns angefangen hast. Wie ist dein zweiter Eindruck?

Ich finde, die Kleinen Riesen sind wie ein Bienenstock. Es wird ständig Kontakt aufgenommen und viel miteinander gesprochen. Dieser Austausch scheint für das Team enorm wichtig zu sein.

Bist du schon in den Bienenstock eingedrungen?

Ich schwirre ein bisschen außen herum. Da ich nur dienstags und mittwochs da bin, fühlt es sich für mich an, wie ein regelmäßiger Besuch.

Fühlst du dich trotzdem als Teil des Bienenstocks?

Ich fühle mich bisher als angenommener, regelmäßiger Besucher.

Wie macht sich das bemerkbar?

Immer wenn ich komme, muss ich erstmal schauen, was in den vergangenen Tagen passiert ist. Für mich gibt es noch keine feste Routine. Meine Arbeit ist stark mit der Alltagsroutine der anderen verbunden. Ich habe noch keine eigene, regelmäßige Routine entwickelt. Die wird aber kommen. Da bin ich mir sicher.

Was sind konkret deine Aufgaben bei uns?

Es gibt drei Aspekte meiner Arbeit.
Erstens: Die psychologische Betreuung der Eltern. Die Eltern sind unglaublich stark in der Versorgung ihrer Kinder eingebunden. Dabei stoßen sie aber auch an Grenzen. Denn sie müssen tagtäglich funktionieren. In diesem Stressumfeld kommen alle möglichen Themen hoch, die sie im Leben haben. Meine Aufgabe ist es, zu schauen, was ein möglicher Umgang mit bzw. eine eigene Haltung zu der aktuellen Situation sein könnte.

Zweitens: Da sein. Bei den Hausbesuchen geht es für mich darum, Präsenz zu zeigen. Das Gefühl geben, da ist jemand, der ist da, hält das aus und kommt auch wieder. Also einfach da sein.

Drittens: Die Versorgungsklarheit. Im Blick auf die Familien zu schauen, ist unser Auftrag eigentlich klar. Was passiert außerhalb des Hausbesuchs. Wir besprechen in unseren Teamsitzungen z.B. ob der Pflegedienst und wir das gleiche Pflegeziel haben, ob die Versorgung des Kindes in der Familie prekär ist oder ob die Eltern sich zu unsicher fühlen, für das, was sie leisten müssen. Ich habe darauf dann einen Fremdblick, weil ich nicht in die Alltagssituation der Familien eingebunden bin. Ich glaube, dieser Blick hilft uns als Team.

Welche Vorerfahrungen bringst du mit für diesen Job?

Ich habe einen ganz breiten Blumenstrauß an Therapie-, Supervisions- und Organisationsentwicklungserfahrungen. Ich kenne mich aus mit Strukturen zu arbeiten, aber ich kann auch die Psyche von Menschen einschätzen. Ich glaube, dass ich mit diesen unterschiedlichen Erfahrungen bei uns gut andocken kann. Und deshalb gibt es für mich auch diese drei Aufgabenteile.

Kannst du nochmal darstellen, wie der Kontakt zu den Kleinen Riesen gelaufen ist?

Zu den Kleinen Riesen bin ich über einen Kollegen der Uni gekommen. Der hat gesagt, die suchen einen Supervisor. Dann habe ich bei euch eine ganze Zeit als Supervisor in der Team- und Fallsupervision gearbeitet. Bis irgendwann klar war, die psychologische Beraterin ist nicht mehr da und es gibt eine neue Ausschreibung der psychologischen Beratung. Ich habe mich dann länger mit dieser Ausschreibung beschäftigt, bis mir klar wurde, das könnte etwas für mich sein. Ich hatte ein Loch in meinem Leben entstehen lassen, um zu schauen, was will ich eigentlich jetzt machen. Und genau in diese Situation ist der Bedarf der Kleinen Riesen gefallen. Da dachte ich, jetzt ist die Zeit, nochmal etwas ganz anderes zu machen und mich auf etwas Neues einzulassen. In meiner Praxis sehe ich die KlientInnen nur für die vereinbart Zeit in einer besonderen Umgebung. Aber in die Familien zu gehen, das ist die pralle Lebenswelt, eine unglaubliche Dichte und Komplexität von Eindrücken.

Hattest du bereits ein einschneidendes Erlebnis bei einer Familie?

Ich finde jede einzelne Familie beeindruckend, wie sie diese Situation mit schwerstkranken Kindern bewältigen und dabei nicht irre werden oder weglaufen. Nachhaltig beeindruckt hat mich mein erster Besuch in einer Familie, die zwei pflegebedürftige Kinder haben. Es ist erstaunlich, wie eine Familie es schafft, zwei Kinder mit diesem Zuwendungsbedarf zu versorgen und ihr sonstiges Leben, zu dem oft ja auch noch Geschwisterkinder gehören, zu gestalten. Diese Kinder haben mich so beeindruckt, weil ich dachte, wie kann ein Körper mit so wenig Substanz leben. Und dann die Mutter zu sehen, die das mit großer Gelassenheit, Routine und Vertrauen macht, da frage ich mich, wie geht das.

Ich hatte vorher sehr großen Respekt die Kinder zu sehen. Bei den meisten Kindern sieht man sofort ein Leid oder ein Ringen und ich wusste nicht, wie ich auf sie reagieren würde. Und eigentlich bin ich ganz erstaunt, denn es geht gut. Ich fange nicht sofort an mitzuleiden, sondern ich kann sie gut nehmen, so wie sie sind. Ich sehe nicht primär Leid, sondern Bewältigung in den Familien. Das finde ich mutmachend.

Du wusstest nicht, ob du mit der Situation vor Ort umgehen kannst. Denkst du, du kannst die Aufgaben leisten und bist angekommen?

Ja ich glaube, ich kann die Aufgabe leisten. Etwas zum Ankommen zu sagen, ist für mich noch zu früh.

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